Demokratie lernen
Freitag 17 März 2017
Annette Zimmer lehrt am Institut für Politikwissenschaft der Universität Münster Vergleichende Politikwissenschaft und Sozialpolitik. Irgendwann im Verlauf des Gesprächs beklagt sie den infolge der Neuorganisation des Studiums (Creditpoints) aufgebauten Druck. „Studierende haben keine Freiräume mehr, das kann man aber in der Forschung nicht gebrauchen“, sagt sie. Es ist ihr Thema. Seit mehr als drei Jahrzehnten forscht Professorin Dr. Annette Zimmer zu Zivilgesellschaft, Nonprofitgesellschaften (NPOs) und Engagement.*
Wodurch unterscheiden sich die Begriffe und Forschungsbereiche?
Sie haben unterschiedliche Traditionen, sind aber doch eng verbunden. Der Begriff der Zivilgesellschaft hat eine lange Tradition in politischer Theorie und Philosophie. Zivilgesellschaft ist die Sphäre zwischen Staat, Wirtschaft und Privatem, in der Bürger*innen ihre Anliegen selbst vertreten und zu gestalten versuchen, meist verbunden mit Ideen von Partizipation, Demokratie und sozialer Gerechtigkeit. Nach meinem Verständnis wahren Akteur*innen der Zivilgesellschaft ein Mindestmaß an Unabhängigkeit von Markt und Staat und gestalten politische Prozesse im Rahmen kollektiven Handelns. Der Nonprofitbegriff ist jüngerer Herkunft. Die Beschäftigung mit zivilgesellschaftlichem Engagement und Nonprofit-Organisationen kam aus den USA und folgte der Erkenntnis: Es gibt nicht nur Unternehmen und Behörden. Von Anfang der 70er bis Ende der 80er Jahre war Nonprofit-Forschung geprägt von der Ost-West-Auseinandersetzung sowie der ersten Welle neoliberalen Denkens, einhergehend mit einer Ablehung vom Staat und der Maxime: Alles muss der Markt erledigen. Es gab aber viele Bereiche, in denen Staat und Markt versagten. Und man sah: Fast fünf Prozent des Bruttosozialprodukts werden in Deutschland von Menschen erarbeitet, die im Nonprofitbereich arbeiten. Die Nonprofit-Forschung betrachtete erstmals den Dritten Sektor, angedockt an die Ökonomie, unter diesem Gesichtspunkt und untersuchte Umfang und Leistungsprofile.
Ist Engagement Teil der Zivilgesellschaft?
Die Engagementforschung nahm in den 90er Jahren Aufschwung. Es wurde ein Zusammenbruch solidarischer Werte wahrgenommen, weil jeder, so die Erklärung, nur nach rationalen und Eigennutzen maximierenden Aspekten handele. Große Beachtung fanden Untersuchungen des amerikanischen Verwaltungswissenschaftlers Robert D. Putnam und seine Arbeit Making Democracy Work, in der er das bessere Funktionieren norditalienischer Verwaltungen im Gegensatz zum Süden des Landes auf das im Norden vorhandene Sozialkapital zurückführte, auf Netzwerke, Vertrauen, Gemeinschaftssinn. Die Arbeiten von Putnam beeinflussten die Forschung zu Engagement ganz erheblich. Vor dem Hintergrund eines „Zerbröselns“ klassischer Milieus bei uns, wie etwa das katholische oder auch sozialdemokratische Milieu, wurde damals ein drastischer Rückgang des Engagemens und eine Gesellschaft der Ichlinge befürchtet
Und, trifft das zu?
Wir sind keine Gesellschaft der Ichlinge. 30,9 Mio Menschen in der Bundesrepublik engagieren sich laut einer Erhebung für 2014 regelmäßig, 43 Prozent der Bevölkerung, die meisten in Vereinen. Aber wir sind heute sehr individuell unterwegs. Die Milieus hatten große Wirkung auf das Engagement. Heute sind die Prägungen weniger stark. Das bedeutet, für die meisten Menschen ist offen, wie und wo sie sich engagieren. Sie entscheiden sich dafür. Die Zahl derer, die nicht in feste Strukturen eingebunden sind und das auch nicht suchen, nimmt zu.
2001 rief die UNO das Jahr der Freiwilligen aus.
Das Bewusstsein für den Dritten Sektor, für einen Bereich, der nicht Staat und nicht Wirtschaft ist, wuchs. Ebenso das Interesse daran. Die Rolle der Zivilgesellschaft wurde zunehmend wichtiger je sichtbarer wurde, dass Staat und Markt nicht ausreichen, um die Verhältnisse vernünftig zu gestalten. Die Forschung befasste sich mit Organisationen und Einzelnen. Das Label war neu, die Sache weniger: Vereinsforschung hat es auch vorher schon gegeben, nun kamen auch Stiftungen in den Blick. Im Jahr 2000 wurde auf Beschluss der Bundesregierung eine Enquete-Kommission „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“ gebildet, die basierend auf einer Bestandsaufnahme Handlungsvorschläge für die Politik liefern sollte. Ziel war es, die Bürgergesellschaft der Bundesrepublik zu fördern. 1999 wurde der erste Freiwilligensurvey (FWS) durchgeführt, dem in regelmäßigen Abständen weitere folgten. Die repräsentative Befragung von Menschen ab dem Jugendlichenalter erhebt freiwillige Tätigkeiten und die Bereitschaft zum Engagement.
Was sind die wesentlichen Aspekte bürgerschaftlichen Engagements?
Zunächst einmal bedeutet es Selbstorganisation. Dann: Demokratie lernen. Man muss miteinander klar kommen, argumentieren, diskutieren, Lösungen finden. Schließlich dient es der Bildung von Gemeinschaft. Aber die Zivilgesellschaft hält der verfassten Gesellschaft auch den Spiegel vor. Zum bürgerschaftlichem Engagement gehört ganz wesentlich auch Kritik und Protest. Den überlassen wir zurzeit leider der, ich nenn’s mal so, „dunklen Seite“ der Zivilgesellschaft. Es gibt derzeit viel zu viel Engagement, das eben nicht zivilgesellschaftlich ist, sondern Zielen von Demokratie, Gemeinschaft und Gerechtigkeit zuwider läuft. Warum das so ist? Gründe dafür sehe ich auch darin, dass viele öffentliche Angebote zurückgefahren werden. Engagement braucht Infrastruktur und Räume. Wir leben in Zeiten der Wegrationalisierung von Freiräumen, zeitlich und auch ganz praktisch.
Aber Engagementförderung wird doch derzeit großgeschrieben. Es gibt den Tag des Ehrenamts, Ehrenamtsbörsen, eine sogenannte Anerkennungskultur.
Sicher, die Unterstützung für Engagement hat sich verbessert, es gibt staatliche Programme, lokale Anlaufstellen und bundesweite Netzwerke, wie das Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement beispielsweise. Die Politik hat das Thema für sich entdeckt. Sie interessiert sich aber auch dafür, um es produktiv einzusetzen, zu kanalisieren, ja vielleicht auch zu instrumentalisieren. Gleichzeitig werden in vielen Bereichen Angebote, die Partizipation und Engagement ermöglichen, abgebaut. In den neuen Bundesländern oder in ländlichen Gebieten, in finanzschwachen Regionen. Ich denke an Jugendzentren, Bildungseinrichtungen, an eine öffentliche Infrastruktur, Räume, in denen man sich gerne aufhält. Wenn das fehlt, haben es rechte Gruppierungen leicht. Denn sie eröffnen dann Möglichkeiten, dort, wo es sonst nichts gibt. Wir, die wir dazu forschen, haben immer wieder darauf hingewiesen, dass es Räume braucht für freies Engagament. Die höchsten Engagementquoten gibt es in skandinavischen Ländern, weil es dort gute öffentliche Einrichtungen gibt. Und es braucht Bildung. Bildung bewirkt interessierte Bürger*innen. Je höher der Bildungsgrad, desto höher das Engagement. Wer abgehängt ist, engagiert sich nicht, zumindest nicht für zivilgesellschaftliche Ziele und Anliegen.
Wer geht denn in die Welt zum Freiwilligendenst? In der Regel sind das Mittelschichtskinder, die davon einmal mehr profitieren. Das ist ein großes Problem beim Engagement. Es vergrößert den Abstand. Wer sich engagiert lernt dazu, erfährt viel, vernetzt sich. Darüber wurde schon in den 70er Jahren geforscht. Volunteering in Afrika oder anderswo ist nur das Sahnehäubchen. Die globale Welt ist so sexy. Aber Herne oder Gelsenkirchen brauchen auch Geld und Engagement.
Das heißt, bürgerschaftliches Engagement muss sich immer wieder selbst befragen und für alle zugänglich zu sein?
Bürgerschaftliches Engagement hat eine Aufmerksamkeit gewonnen, die es vorher nicht hatte. Die Frage ist, wie man es schaffen kann, dass die Probleme hierzulande angegangen werden. Jede öffentliche Einrichtung hat Fördervereine, weil sie sonst gar nicht funktioniert. Denken Sie an den Zustand vieler unserer Schulen. Und auch hier wird wieder mehr getan, wo die zahlungskräftigste Klientel ist. So bleiben Schulen in den Randgebieten auf der Strecke. Oder große Sportvereine mit ihrem breiten Angebot, ganz zu schweigen vom Profi-Fußball: Hier sitzt das Geld und die Macht. Doch kleinen Vereinen geht es schlecht. Die Infrastruktur ist häufig marode, die Zuwendungen der öffentlichen Hand rückläufig. Doch darüber wird nicht berichtet. Zivilgesellschaftliches Engagement ist essentiell für Demokratie. Es muss daher unser Ziel sein, es allen zu ermöglichen. Das bedeutet: Bildung, Bildung, Bildung. Dafür müssen wir uns stark machen. Der dunklen Seite der Zivilgesellschaft, Bewegungen und Gruppen, die sich gegen Demokratie wenden und Andere ausgrenzen, sollten wir entgegenhalten: Wir sind ein Land in Europa, definieren uns nicht über Abgrenzung, aber wir wissen, wir müssen etwas für uns und Europa tun. Unsere Kinder brauchen Bildung und Möglichkeiten – Zeit und Raum – sich auszuprobieren. Wir brauchen ein großes Investitionsprogramm für mehr Bildung und Partizipation.
Warum sagt denn keiner was?
Die großen Akteure der Zivilgesellschaft, also Wohlfahrtsverbände, Kirchen, Gewerkschaften, Parteien, das Spektrum der Vereine nutzen ihre Macht nicht. Es ist Aufgabe der Zivilgesellschaft, sich als dritte Kraft ein klares Profil zu geben, die Stimme zu erheben, Missstände zu thematisieren und Probleme zu benennen. Das passiert derzeit nicht. Vielmehr wird versucht, sich vor allem der Wirtschaft und ihrer Logik anzupassen. Das ist falsch. Dann geht die eigene Stimme, das eigene Profil verloren. Wenn niemand etwas sagt, ist die Zivilgesellschaft stumm. Das ist das, was wir momentan erleben. Die Zivilgesellschaft hat keine Stimme. Eigentlich sollte die Zivilgesellschaft dem Staat sagen, was zu tun ist. Je mehr Menschen sich beteiligen können, desto eher ist gewährleistet, dass nicht nur die Interessen Weniger durchgesetzt werden. Zivilgesellschaft engagiert sich vor Ort. Wir brauchen ein Engagement, das in der Lage ist, Probleme zu benennen, auf Veränderung zu bestehen und sie mitzugestalten.
Trägt die zunehmende Ökonomisierung des Dritten Sektors zum Verstummen bei?
Das spielt sicher eine Rolle.
Reden wir also über Geld. Bildung kostet, heißt es immer. Es gibt ja Stiftungen, Gönner, Mäzene, superreiche Geber.
Das Philanthrokapitalismus ist problematisch, er ist ehrlich gesagt ein Riesenproblem. Geld, das einzelne Reiche nach Gutdünken einsetzen, um die Welt zu verbessern, ist nicht immer gut eingesetzt.. Ich will ein Beispiel nennen. Eine Zeit lang flossen große Summen privater Gelder in Programme zur Demokratieförderung in Osteuropa. Der Geber drehte von jetzt auf gleich den Geldhahn zu, die Programme waren damit sofort vom Tisch. Nicht besonders nachhaltig! Stiftungsgelder sind genauso undemokratisches Geld, aber Stiftungen unterliegen klaren Regelungen. Wir sehen auch zunehmend eine Art Schulterschluss zwischen Stiftungen und der öffentlichen Hand, so dass gemeinsam Dinge angepackt werden. Aber insgesamt müssen wir – die Zivilgesellschaft - dafür sorgen, dass das Geld, über das im demokratischen Kontext bestimmt wird, so ausgegeben wird, dass es die Partizipation aller ermöglicht. Es kann doch nicht ernsthaft darum gehen, schwarze Zahlen zu feiern. Hierzulande wird nicht in das Nötigste investiert. Wir sparen uns zu Tode. Das wird auch das Engagement betreffen.
Das Interview führte Marion Wedegärtner
Zum Weiterlesen und Vertiefen: Annette E. Zimmer, Ruth Simsa (Hrsg.), Forschung zu Zivilgesellschaft, NPOs und Engagement, Quo vadis, Wiesbaden 2014
*Wir sind eher an den Begriff NGO, Nichtregierungsorganisation gewöhnt. Dazu Annette Zimmer: „Die Unterscheidung ist schwierig, da jede Richtung die Organisationen anders bezeichnet: Organisationen, die international oder im Ausland tätig sind, werden als NGOs bezeichnet. Beispielsweise ist die Caritas hierzulande gemeinnützige Organisation, Wohlfahrtsverband oder Nonprofit-Organisation, NPO, wenn Betriebswirtschaftler draufschauen; die Caritas-Vertretung in Brüssel gilt als NGO, ebenso die Caritas in Timbuktu. Es sind aber immer Organisationen jenseits von Markt und Staat.“