Am Ende der Kette sind Menschen
Mittwoch 15 November 2017
Mehr als 6.500 Anlegerinnen und Anleger investieren über den Westdeutschen Förderkreis ihr Geld bei Oikocredit. Sie unterstützen die Arbeit der Genossenschaft auf dem Hintergrund ihrer Erfahrungen und ihrer Haltung zur Welt. In jedem Magazin wird künftig eine oder einer von ihnen davon erzählen. Zum Auftakt besuchten Marion Wedegärtner (Text) und Julia Krojer (Fotos) Christine Burkhardt in Dortmund.
Eben war sie im Garten. „Bis zum letzten Kraut“ versuche sie, aus dem, was da ist, etwas zu machen, „und wenn’s nur fürs Auge ist“. Es dauert nur wenige Minuten, Christine Burkhardt sortiert derweil geübt Grünes und Blühendes in eine Vase, dann sind wir beim Thema Geld. Seit September 2015 unterrichtet die pensionierte Dortmunder Pfarrerin ehrenamtlich Menschen, die geflüchtet sind. Der erste Schüler war ein junger Mann aus dem Niger, einem der ärmsten Länder der Erde. Primärer Analphabet, er hat nie eine Schule von innen gesehen, wir haben lange und mühsam eine Sprache gesucht, die wir teilten. Am Ende erfuhren wir eine Geschichte aus Armut, Perspektivlosigkeit und Gewalt, die für uns unfassbar ist“.
Das Asylgesuch wurde abgelehnt. „Hunger ist ja kein Grund“, sagt Christine Burkhardt lakonisch. Sie habe beim Auswärtigen Amt angefragt, was denn für eine sinnvolle freiwillige Rückkehr getan werde. Zurück kam ein Formbrief: Freier Flug und 500 bis 800 Euro, je nach Land. „Was soll er mit dem Geld im Niger anfangen? Es braucht Unterstützung und Rahmenbedingungen, um sich dort eine Perspektive aufzubauen. Und wer abgeschoben wird, hat sich schon beim deutschen Staat verschuldet, für die Flugkosten. Käme er zurück, müsste er die Schulden bezahlen. Er kann nie zurückkommen.“
Zwei Mark am Tag
Vom Schreibtisch holt sie eine Literaturpostkarte: Der Emigrant lebt von der Hand in die Hand und seinem bisschen Verstand. Ein Aphorismus, von der 2009 verstorbenen österreichischen Dichterin Elfriede Gerstl selbst „Denkkrümel“ genannt. Deren bissigen Humor liebt Christine Burkhardt sehr. Während der Arbeit als Gemeindepfarrerin sei ihr immer deutlich gewesen, dass es einen Abstand gab, einfach durch Einkommen und Sicherheit, sagt sie. Dort, wo sie ihre Berufslaufbahn startete, seien viele Menschen nach dem Krieg aus dem Osten gekommen, arbeiteten auf der Zeche, „hatten viel geschafft, aber auf bescheidenem Niveau“. Sie selber habe das Glück gehabt, dass ihre Eltern ihr das Theologiestudium finanzierten. Auch das nur, weil ihr älterer Bruder sich für die Offizierslaufbahn entschieden hatte und ihre jüngere Schwester noch zur Schule ging. Das Geld reichte nur für ein Studium.
1956 verließen ihre Eltern mit ihr und dem Bruder die DDR, landeten irgendwann im Flüchtlingslager Wentorf bei Hamburg. Eine schwedische Hilfsorganisation holte ein Kind pro Familie aufs Land, zum Aufpäppeln. Drei Monate auf dem Bauernhof in
Schweden. Bei der Rückkehr waren die Eltern nach Witten umgezogen. Zu ihrer Verblüffung war eine Schwester da. „So war das damals. Übers Kinderkriegen wurde mit Kindern nicht geredet.“ Man lebte über einer Schreinerwerkstatt. Die Mutter, gelernte Krankenschwester, putzte Waschkauen, während der Vater auf eine Anstellung als Lehrer wartete. Zwei Mark am Tag für alle. „Einmal musste ich zum Milchbauern, mit dem letzten Geld, da holte man die Milch noch in Henkelkannen. Mir ist die volle Kanne vor der Haustür umgekippt. Ich war acht Jahre alt. Es wurde nicht groß geschimpft. Aber dieses Entsetzen, nichts kochen zu können und die Nachbarn um Essen fragen zu müssen: Das vergisst man nicht“. Später, im Studium, habe sie versucht, die Börsenberichte zu lesen, erzählt Christine Burkhardt. „Aber es gab, irgendwo unten drunter, immer nur einen Satz, den ich verstand – und den mochte ich sehr: New York eröffnet freundlich.“
Perspektivenwechsel
Nach dem 1. Examen ging sie für ein Semester an die Selly Oak Colleges in Birmingham, wo zeitweise Student*innen aus 60 Ländern miteinander und voneinander lernten. Das ehemalige Missionsseminar für Frauen wurde in den 60er Jahren zur multinationalen Ausbildungsstätte für den Dienst in postkolonialen Kirchen in einer postkolonialen Welt. Ökumene und Perspektivwechsel waren Programm. „In der Zeit habe ich Oxfam kennengelernt und zum ersten Mal gehört, unter welchen Bedingungen Fabrikarbeiterinnen in anderen Ländern der Welt um ihre Existenz kämpften.“ Es waren die 70er Jahre. Politische Theologie, Theologie der Befreiung, Kirche der Armen: Politisierung von Religion und Kirche verband sich mit der Aufforderung zum Widerstand gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit und zwar transnational. 1969 eröffnete in den Niederlanden der erste „Dritte-Welt-Laden“. In Deutschland trieben die Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend und der Bund der Deutschen Katholischen Jugend ab 1970 die Aktion Dritte-Welt-Handel voran. Hilfe zur Selbsthilfe statt Almosen war das Gebot der Stunde. In diesem Kontext wurde auch Oikocredit 1975 gegründet. Bei der Arbeit im gemeindeeigenen Weltladen seinerzeit habe sie gelernt zu fragen, wo welche Produkte herkommen und unter welchen Bedingungen sie hergestellt werden. „Alle lasen das Buch: Eigener Haushalt und bewohnter Erdkreis, 1981 erschienen, und wir lernten da ja erst, bei allem, was bei uns auf den Tisch kam, zu begreifen, dass am Ende der Kette Menschen sind“. Immer wieder sei sie im Verlauf der Berufstätigkeit auf den Namen Oikocredit gestoßen.
Spenden für Brot für die Welt, dessen Arbeit sie sehr schätzt, sei wohl doch einfacher gewesen, sagt Burkhardt, „denn Mitglied geworden bin ich erst mit der Pensionierung. Bei allem, was ich nicht verstehe vom Geld, finde ich das, was Oikocredit macht, seriös“, sagt sie, und die Vorstellung, Geld für Kredite anzulegen, bedeute eben auch, nicht nur etwas abzugeben, sondern anständig mit dem Geld umzugehen. „Für mich ist ja selten die Frage, ob ich mir etwas leisten kann oder nicht, sondern wann. Was für andere eine Existenzfrage ist, ist für unsereins eine Frage der Zeit. Dessen bin ich mir bewusst“.
Etwas Eigenes aufbauen
Dass Oikocredit durch die Zusammenarbeit mit Mikrofinanzorganisationen Frauen und Frauengruppen unterstützt, ist Christine Burkhardt besonders wichtig, „weil die Frauen sich mit Mikrokrediten etwas Eigenes aufbauen können“. Nach allem, was sie aus ihrem Ehrenamt mitbekomme, fände sie es übrigens wichtig, Frauenprojekte der Kurdinnen im Nordirak zu unterstützen, sagt sie – als Anregung an die Adresse der Genossenschaft. Christine Burkhardt ist Mutter von fünf Kindern aus zwei Lebensphasen. Mit ihrem Mann Matthias Kleiner hat sie drei erwachsene Kinder. Die beiden ersten adoptierte sie direkt nach der Adoptionsreform 1977 als junge alleinstehende Gemeindepfarrerin. Da hatten die Kinder, jedes für sich, schon schwierige Zeiten hinter sich. „Es war nicht leicht, ihnen gerecht zu werden, ich habe nicht alles richtig gemacht, es ist nicht alles glatt gelaufen“, sagt Christine Burkhardt. Trotzdem sei es richtig gewesen und sie täte es wieder, wenn sie auch nicht jedes Detail wiederholen wollte. „Handeln bemisst sich nicht allein am Erfolg.“ Einmal hätten die Kinder sie gefragt, warum sie sich, wo es doch jetzt finanziell möglich war, kein Pferd kaufe, sie reite doch so gern. „Nein, um Kinder großzuziehen, kann ich Geld ausgeben, aber nicht für ein Pferd.“
Und dann ist da noch die Karte an der Wand: Alles ist gut, wenn es aus Schokolade ist.