„Die Kundschaft wartet nicht“ - Entscheidungen sind auch eine Frage der guten Beziehungen
Dienstag 20 Dezember 2016
4.599 Kilometer Luftlinie liegen zwischen den Büros von Judy Ngarachu und Yves Komaclo. 6.366 Kilometer Wegstrecke von Nairobi im Osten Afrikas nach Abidjan im Westen, 93 Stunden Fahrt mit dem Auto über die A 104, ohne Verkehr 90 Stunden sagt der Routenplaner im Netz – als gäbe es eine Fernstraße ohne Verkehr –, über Uganda, Südsudan, Zentralafrikanische Republik, Nigeria, Benin, Togo und Ghana. Die beiden Oikocredit-Regionaldirektoren für Ost- und Westafrika spannen sozusagen den Bogen über Verschiedenheiten und Ähnlichkeiten hinweg, vertreten auf der Ost-West-Achse Oikocredit auf dem Kontinent, mit fünf Büros im überwiegend frankophonen Westafrika und vier im anglophonen Ostafrika. Sie koordinieren die Arbeit der Genossenschaft in Afrika gemeinsam mit dem Team des Referats für neue Märkte, das sich u.a. um afrikanische Länder ohne Länderbüro kümmert, seinen Sitz in Amersfoort und ein Büro im nigerianischen Lagos hat.
Ein gemeinsames Gespräch mit Yves Komaclo und Judy Ngarachu ist im November 2016 erfreulicherweise mit verkürzter Anreise möglich: Einmal im Jahr treffen sich die Leiterinnen und Leiter der Regionalbüros und ihre Stellvertreter mit dem Management von Oikocredit International in Amersfoort in den Niederlanden. Ein Drittel der rund 300 Beschäftigten aus 48 Nationen in Afrika, Asien, Europa und Lateinamerika kommen dort jährlich zusammen, um sich auszutauschen, miteinander und voneinander zu lernen und zusammen zu arbeiten.
Oikocredit gut sichtbar in der Region
„This is the time for Africa“, sagt Judy Ngarachu. Der Satz, locker übersetzt etwa „Jetzt ist Afrika am Zug“, ist Motor und Motto der Regionaldirektorin in Ostafrika. Eine Erkenntnis auch, die Oikocredit vor vier Jahren dazu veranlasst hat, Afrika zum strategischen Schwerpunkt zu machen; mit dem Ziel, den Anteil Afrikas am Gesamtportfolio bis 2020 zu verdoppeln. Seitdem ist die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von 43 auf 46 gewachsen; obwohl das Büro in Tansania Anfang 2015 geschlossen wurde, weil ein schwieriges Marktumfeld und die Regulierungen die dauerhafte Anwesenheit der Fachkräfte im Land schwierig machten. Zahlen zeigen, wohin die Entwicklung geht: 2007 hatte Oikocredit 47 Millionen Euro in afrikanischen Ländern investiert, 2008 waren es 52 Millionen, 2013 72,5 Millionen Euro. Aktuell sind 176 Millionen Euro in Afrika inklusive der Finanzierung von Projekten im Bereich Erneuerbare Energien (ebenfalls ein aktueller Schwerpunkt von Oikocredit) und der Kapitalbeteiligungen investiert. Rund 19 Prozent der gesamten ausstehenden Finanzierungen der Genossenschaft sind also in Afrika vergeben; an rund 200 Partnerorganisationen in 24 Ländern, sechs mehr, als es noch 2013 waren.
46 lokale Fachkräfte – das klingt wenig angesichts der geografischen und demografischen Dimensionen des Kontinents. Allemal mehr, sagen die Regionaldirektoren, als die anderen privaten Investoren vorzuweisen hätten, deren Büros immer noch in Europa oder den USA verortet seien. „Unsere starke lokale Präsenz und die Tatsache, dass unsere Mitarbeitenden kontinuierlich anwesend sind, schaffen mehr Nähe zu den Partnern und geben uns als Organisation ein besseres Verständnis der Märkte, in denen wir agieren.“ Yves Komaclo: „Das Büro in Abidjan, in dem ich seit 2009 arbeite, wurde 1994 eröffnet. Seitdem sind wir hier. Vielleicht sind wir in der breiten Öffentlichkeit weniger bekannt, aber hier in der Region, für unsere Zielgruppen, die Mikrofinanzorganisationen, Agrarkooperativen, Banken für kleine und mittlere Unternehmen etc., sind wir als sozialer Partner für Finanzierungen sehr gut sichtbar und präsent.“
Wachstum beim mobilen Geld
Das ist ein wichtiger Vorteil. Denn: Der Markt verändert sich, die Konkurrenz im Mikrofinanzbereich ist stärker geworden, afrikanische Länder werden zunehmend attraktiv für Investoren, besonders in Ostafrika, aber nicht nur dort. „Im Augenblick konzentrieren sich die Menschen nämlich eher darauf, ihre Geschäfte zu entwickeln, als zu kämpfen“, lautet die Lagebeschreibung von Judy Ngarachu. Besonders Kenia liegt logistisch komfortabel, ist im Direktflug von Europa aus leicht zu erreichen, das ganze Jahr über vom Klima verwöhnt und hat eine ganze Reihe größerer Fertigungsbetriebe. Sowohl lokale als auch internationale Investoren seien derzeit immens interessiert, sagt die Regionaldirektorin, und setzt nach: „Die Investoren haben begriffen, dass arme Menschen ihre Kredite zurückzahlen“.
Die allgemeine Beschleunigung der wirtschaftlichen Entwicklung in afrikanischen Ländern, der Digitalisierung des Kontinents und des Wettbewerbs verändern auch das Tempo, in dem Geschäfte gemacht und Entscheidungen getroffen werden. Das spüren die beiden Regionaldirektoren, bei allen Unterschieden zwischen den Regionen. „Einer der wesentlichen Unterschiede zwischen unseren Regionen ist der in der Entwicklung bei digitalen Finanzdienstleistungen, das Wachstum beim mobilen Geld in Ostafrika“, sagt Judy Ngarachu. „Fast jeder hat ein Handy.“ Wie zum Beweis hält die Regionaldirektorin ihr Smartphone in grellroter Schutzhülle hoch: „Ich habe in den wenigen Tagen, die ich hier in Amersfoort bin, schon drei mobile Finanztransaktionen via Handy erledigt. Wir nutzen es jeden Tag. Wir zahlen unsere Rechnungen damit, machen Überweisungen, kaufen ein, bezahlen für Dienstleistungen usw. Es ist zunehmend Teil unseres Lebens und unserer Arbeit; denn Menschen, die arm sind, bekommen übers Handy Zugang zu Krediten. Ich kann von meinem Bankkonto auf mein Handy Geld anweisen und die Bank kann mir auch ein kleines Darlehen aufs Handy überweisen. Es gibt viele Plattformen, viele Anbieter. Für die Kundinnen und Kunden ist das komfortabel, sie gewöhnen sich daran.“
„Wir müssen schneller reagieren“
Die Folge ist, dass Kundinnen und Kunden der Mikrofinanzinstitutionen (MFI) jetzt schnellere Entscheidungen einfordern. „Sie können in weniger als 24 Stunden ein Darlehen auf ihrem Handy haben. Sie haben oft keine Zeit, zu einer Mikrofinanzinstitution zu gehen und dann zwei Monate auf einen Kredit zu warten“, sagt Judy Ngarachu. Die MFI, mit denen Oikocredit zusammenarbeitet, erwarten ihrerseits, dass Oikocredit schneller auf ihre Anfrage nach einem Darlehen reagiert. „Viele der Mikrofinanzbanken arbeiten mit Handyprovidern zusammen, damit sie mobile Plattformen anbieten können, über die sie ihre Klienten schnell bedienen können. Und selbst wenn die Endklienten nach dem klassischen Kreditgruppenmodell arbeiten, in dem fünf Menschen oder mehr füreinander einstehen, wollen sie, dass die Mikrofinanzinstitution die Kredite auf ihre Handys auszahlt. Die einzelnen Kundinnen und Kunden wollen, dass die MFI schneller auszahlen, die MFI wollen von uns, dass wir schneller auszahlen.“
„Wir als Oikocredit müssen schneller reagieren“, sagen Judy Ngarachu und Yves Komaclo unisono. Die Genossenschaft ist indes doch dafür bekannt und legt Wert darauf, dass Entscheidungen erst nach sorgfältiger Prüfung und Beobachtung der künftigen Partnerorganisationen gefällt werden? Klar, sagen beide. Aber: Sorgfalt müsse ja nicht unbedingt viel Zeit in Anspruch nehmen. Auch Prüfverfahren werden durch die Digitalisierung beschleunigt. Und, so Yves Komaclo, „Entscheidungen sind auch eine Frage der guten Beziehungen.“ „Unser Vorteil ist, dass wir den Mikrofinanzsektor in den Ländern, in denen wir operieren, gut kennen. Wir kennen auch die MFI, mit denen wir zusammenarbeiten wollen, sehr gut und verstehen viel von ihrem Geschäft, weil wir langjährige Beziehungen aufbauen. Das ermöglicht es uns, schneller zu reagieren, wenn sie ein Darlehen brauchen“, sagt Judy Ngarachu. Yves Komaclo: „Wir müssen vorbereitet sein, Trends erkennen. Das geht nur über intensiven Kontakt. Es gibt Zeiten im Jahr, in denen die Menschen vermehrt Geld brauchen: Schulbeginn, Feiertage, Erntezeiten für Kaffee, Kakao usw. Das haben wir in den letzten Jahren gelernt. Wir wissen, dass die Verfahren bei Oikocredit zeitintensiv sind und wollen ein bisschen mehr antizipieren.“
„Das müssen wir auch“, sagt Judy Ngarachu. „Wenn wir keine schnelle Entscheidung treffen, kommt ein anderer Investor zum Zug. Wichtig ist, dass wir physisch anwesend sind.“ Aber man müsse auch sehen, wirft ihr Kollege ein, dass „in der selben Zeit, in der wir einen neuen Partner prüfen, der dasselbe ja auch macht. Er prüft, ob er uns vertrauen kann, Vertrauensbildung läuft ja von beiden Seiten“.
Nachfrage nach Finanzierungen
Braucht es denn überhaupt noch Finanzierungen von Oikocredit, wenn sich doch alles so temporeich entwickelt? Yves Komaclo: „Auf jeden Fall, es gibt immer noch eine starke Nachfrage nach Finanzierungen, besonders im Sektor finanzielle Dienstleistungen, aber auch in der Landwirtschaft.“ „Landwirtschaft erfordert allerdings enorm viel Kenntnis. Kaffee wird in Ruanda anders gehandelt als in Uganda und in Uganda anders als in Kenia“, sagt Judy Ngarachu. „Man muss wissen, was da verkauft wird, muss die Abläufe kennen, die Risiken: es braucht mehr Zeit, sich zu entwickeln.“ Aus diesem Grund haben die Oikocredit-Büros in Afrika entschieden, sich auf wenige landwirtschaftliche Untersektoren wie Mais, Milchwirtschaft, Kaffee, Kakao, Reis und Cashews zu konzentrieren.