Bolivien: Autoteile zu Pflugscharen
Bolivien war Ziel der diesjährigen Study Tour von Oikocredit International. Eine Woche lang erhielten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer Einblick in die Arbeit von Oikocredit vor Ort und besuchten mehrere Partnerorganisationen. Daniel Sommer, Mitarbeiter der Geschäftsstelle des Westdeutschen Förderkreises, war dabei und berichtet über seine Erfahrungen.
10. Mai 2014: angekommen. Gegen 5 Uhr morgens landet der Flieger aus Madrid in Santa Cruz, der wohlhabendsten Stadt Boliviens. Während der Fahrt vom Flughafen Viru Viru zum Hotel in der Stadt fallen mir Händler auf, die schwere Maschinerie für die Landwirtschaft verkaufen, hauptsächlich große moderne Traktoren. Santa Cruz liegt in der Tiefebene und ist Zentrum für den Großanbau landwirtschaftlicher Produkte wie Reis, Soja, Zuckerrohr, Mais und andere. Etwa 30 Prozent der Bevölkerung Boliviens sind im landwirtschaftlichen Sektor beschäftigt. Der wiederum trägt 15 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei – Tendenz steigend.
Am nächsten Tag beginnt das offizielle Programm der Study Tour. Vom 11. bis zum 17. Mai besuchen wir Mikrofinanzinstitutionen, deren Kundinnen und Kunden und Partnerorganisationen aus der Landwirtschaft. Ich bin eingeteilt in Gruppe Nummer drei. Für uns heißt es: warm anziehen und auf nach La Paz! In La Paz und Umgebung besuchen wir drei Oikocredit-Partner: Saité, CRECER und Banco FIE.
Die ersten Blicke aus dem Flugzeugfenster sind atemberaubend. Unter uns erstreckt sich der Altiplano, eine Hochebene zwischen den Hochgebirgsketten der Anden. La Paz liegt auf ca. 3700 Metern Höhe und ist damit der höchstgelegene Regierungssitz der Welt. Es scheint, als berühre die Stadt den Himmel. Die Sonne scheint und der Himmel ist blau. Auf dem Weg zum Hotel kann man fast ganz La Paz überblicken.
Anders als in der Tiefebene rund um Santa Cruz findet sich in der Hochebene der Anden eher kleinbäuerliche Landwirtschaft. Angebaut wird hauptsächlich Mais, Getreide, Kartoffeln, Quinoa und Gemüse. So führt unser erster Partnerbesuch auch zu einem Produzenten landwirtschaftlicher Erzeugnisse.
Um zum Produktionsort von Saité zu gelangen, müssen nochmal 300 Höhenmeter nach El Alto zurückgelegt werden. Saité ist ein Familienbetrieb, der lange Partnerorganisation vom Oikocredit war, aktuell wird über eine neue Finanzierung verhandelt. Saité produziert seit fast 30 Jahren Quinoa, aber auch Sesam, Amaranth und Chia - ein schon den Maya bekannter kleiner gehaltvoller Samen - gehören mittelweile zum Sortiment. Die Nachfrage nach biologisch angebautem Quinoa ist in den letzten 15 Jahren stark angestiegen. Die Pflanze enthält viele Nährstoffe und wenig Gluten und lässt sich gut lagern. Bauern, die sich meist in kleineren Kooperativen zusammengeschlossen haben, verkaufen ihre Ernten an Saité. Saité bietet ihnen einen angemessen Preis für ihre Produkte, technische Unterstützung, Darlehen und kostenfreie Bio-Zertifizierung. Insgesamt kauft Saité Quinoa von knapp 200 Bäuerinnen und Bauern aus der Region auf. Wir lernen Tito, einen der Bauern kennen und besichtigen dort den modern ausgestatteten Betrieb mit rund 80 Beschäftigten. Titos Frau koordiniert in ihrem Dorf das Einsammeln der Ernte und den Transport nach La Paz.
Am nächsten Tag steht ein Besuch bei einer village bank von CRECER auf dem Plan. CRECER ist eine Non-Profit Organisation, die Finanzprodukte, aber auch nicht finanzielle Produkte, Gesundheitsdienste, Schulungen und Beratung, Umwelttrainings für benachteiligte Frauen und ihre Familien anbietet.
Um dorthin zu gelangen, steigen wir wieder in unseren Bus und fahren weiter Richtung Titicacasee. Bevor wir die village bank kennenlernen, halten wir an einem kleinen Krankenhaus in Huarina, wo an diesem Tag ein sogenannter „Gesundheitstag“ stattfindet, der von CRECER organisiert wird. Dieser Tag ermöglicht es Frauen aus der Region, sich auf Gebärmutterhalskrebs testen zu lassen. Gebärmutterhalskrebs kommt in Bolivien fünf Mal häufiger vor als zum Beispiel in den USA. Um die Gefahren der Krankheit frühestmöglich zu erkennen, kommt Dr. Alejandro Cruz zweimal im Jahr in das Krankenhaus in Huarina. Heute erwartet er 20 Frauen, die sich testen lassen wollen. Die Frauen zu überzeugen, einen solchen Test machen zu lassen, ist nicht einfach. CRECER verwendet viel Energie darauf. Die village bank-Trainingseinheiten werden oft dazu genutzt. Ein solcher Test kostet 50 Bolivian (= 5,46€). CRECER subventioniert den Preis, zahlt die Kosten des Arztes und übernimmt die Organisation.
Zwei Dörfer später, in Chua Visalaya, direkt an den Ufern des Sees gelegen, empfangen uns die zehn Gruppenmitglieder der village bank (acht Frauen und zwei Männer) auf einer Wiese des Dorfplatzes, der erstaunlich groß ist. Hier lernen wir die Arbeit von CRECER und die Arbeitsweise ihrer village banks kennen. Als wir ankommen, werden gerade die monatlichen Rückzahlungsbeträge eingesammelt. Alberta Mamani (Präsidentin) und Pacesa Paucara (Kassenwartin) rufen die Gruppenmitglieder nacheinander auf. Erst als das Geld gezählt ist und alles seine Richtigkeit hat, wird es der Mitarbeiterin Carla Albelo von CRECER übergeben. Insgesamt hat die Gruppe in Chua Visalaya einen Kredit von etwa 7.425 €. Die Mitglieder brauchen die Kredite, um davon Waren für den Weiterverkauf in ihren Läden einzukaufen, um Materialien zur Weiterverarbeitung zu besorgen oder für den Kauf von Samen und anderen landwirtschaftlichen Produkten. So auch Fabiana. Sie erzählt, dass sie den Kredit benötige, um Futter für ihre Schweine und Kühe zu kaufen. Das Gruppentreffen endet mit einer kurzen Trainingseinheit, bei der Carla nochmal auf den Test zur Erkennung von Gebärmutterhalskrebs eingeht. Sie spricht mit denen, die den Test schon gemacht haben und ermuntert die anderen, ihn bald zu machen. Abschließend gibt es ein gemeinsames Picknick (apthapi). Die Frauen bringen Käse, Kartoffeln und Fisch. Wir essen gut und brechen kurz danach auf.
Am dritten Tag auf einer Höhe von etwa 4000 Metern habe ich mich zunehmend an die dünne Luft gewöhnt. Uns allen fällt es jetzt leichter zu laufen, wenn auch nur wenige Meter. Wir besuchen Banco FIE in La Paz, eine weitere Mikrofinanzinstitution. Die Hauptzentrale ist beeindruckend. Außen wie innen. Der Altbau wird von einem gläsernen Neubau umschlossen. Was hat das noch mit Mikrofinanz zu tun? Banco Fie-Präsidentin Ximena Behoteguy und der Geschäftsführer Andrés Urquidi Selich sind davon überzeugt, dass Professionalität und mission keeping keine Gegensätze sein müssen. Zwei Stunden dauert unser Gespräch. Ihre Arbeit ist überzeugend, auch für uns.
Banco FIE ist seit März 2010 eine voll regulierte Bank, die sich auf Mikrofinanzierung spezialisiert hat. Das heißt, sie unterliegt den gleichen Gesetzen wie herkömmliche Banken auch. Zuvor bot Banco FIE viele der Mikrofinanzdienstleistungen als NGO an. Ximena Behoteguy erzählt, dass es ihre Kundinnen und Kunden selbst waren, die fragten, wieso FIE keine Bank sei, schließlich würde sie ja dasselbe tun. Die neue Unternehmensform ermöglicht Banco FIE, weitere Sparprodukte anzubieten, und es ermöglicht, an günstigeres Kapital zu gelangen. Das wiederum hat zur Folge, dass die Zinsen für die Endkundinnen und Endkunden gesenkt werden können - auf das im Landesvergleich beeindruckend niedrige Niveau von 16 Prozent. Seit knapp einem Jahr bietet Banco FIE auch Studienkredite an. Junge Menschen, die sich ein Studium nicht leisten könnten, haben die Möglichkeit, Gebühren, Fahrtkosten oder Kosten für die Unterkunft mit einem Kredit zu bezahlen. Erst sechs Monate nach Abschluss des Studiums müssen sie ihn zurückzahlen.
Wir verlassen die Bank, um mit einigen der EndkundInnen von Banco FIE zu sprechen. Etwa zehn Minuten zu Fuß entfernt liegt eine Siedlung, in der viele handwerkliche Kleinbetrieben angesiedelt sind. Dort treffen wir auf Pablo, einen Schmied. Seit 15 Jahren ist er Kunde von Banco FIE. Er schmiedet Werkzeug für den Bergbau und die Landwirtschaft. Oft benutzt er dazu alte Gegenstände aus Eisen, beispielsweise ausrangierte Autoteile. Pablo hat schon mehrere Kredite von Banco FIE erhalten. Einen davon hat er dazu verwendet, den kleinen Raum, den er als Schmiede nutzt, zu kaufen. Den aktuellen Kredit benötigt er, um neues Rohmaterial einzukaufen. Aber auch neues Werkzeug hat er schon damit angeschafft. Die Arbeit sei anstrengend, sagt er. „Aber mein Sohn hilft mir dabei.“
Seinen eigenen Lebensstandard hat der Schmied nur wenig verbessern können, die Ausgangssituation seiner Kinder schon. Sie alle gehen zur Schule bzw. haben eine Schulausbildung. Einem der Schwiegersöhne hat Pablo ein Auto finanziert, damit der als Taxifahrer arbeiten kann. Sein Sohn wird die Schmiede vielleicht einmal übernehmen und sogar ausbauen können.